wir sind dran #2
Von goldener Energie oder der neuen Brutalismus-Salonfähigkeit
Ein Gespräch mit dem deutschen Vorreiter des ressourcenschonenden Bauens, Prof. Dr. Werner Sobek, hat im Januar diese Erzählreihe eröffnet. Denke ich an Leuchtturmprojekte im Kontext nachhaltiger Architektur, kommen mir zuerst der „Alnatura Campus“ von haas cook zemmrich STUDIO 2050, das „Rathaus Freiburg“ von ingenhoven architects oder das Hannoveraner „Recyclinghaus“ von cityförster in den Sinn. Drei Unternehmen mit insgesamt 13 Führungspersonen, von denen drei weiblich sind. Obwohl seit 2006 mehr Frauen als Männer das Architekturstudium erfolgreich abschließen, sind weibliche Karrieren in der Bauwelt eher selten.
Entgegen diesem Trend bin ich bei meiner Recherche zu dieser Kolumne deutlich mehr Heldinnen als Helden begegnet, die in Hannover an der Schnittstelle von Architektur und Verantwortung agieren. Eine von ihnen ist Isabel Fiedler, Inhaberin von „IF-Architecture“ und 2017 Gewinnerin des „max. 45 – Junge Architekten in Niedersachsen“ Architekturpreises. Verdient hat sie sich die Auszeichnung mit dem Umbau einer Sparkassenfiliale aus den 1970er Jahren zum Restaurant „Tresor“ (in Isernhagen-Süd), wobei u.a. der (frühere) Tresorraum in einen besonderen Gastraum umgewandelt wurde. „Der Architektin Isabel Fiedler (…) spricht die Jury eine große konzeptionelle Entschlossenheit zu, indem sie einen nüchternen Funktionsbau in einen atmosphärenreichen Raum für ein hochwertiges Restaurant verwandelt“, so verrät es die Website der Stadt Hannover. Aktuell arbeitet Isabel Fiedler zwar weniger mit ehemaligen Gold-Lagerstätten – auf eine besondere Weise ist sie dem Edelmetall jedoch treu geblieben und würdigt die „goldene Energie“ gleich mehrerer Relikte des Brutalismus in Hannover.
Die Umbenennung der sogenannten „grauen Energie“, kommunikationsstrategisch entwickelt von der Bundesstiftung Baukultur, soll verdeutlichen, dass Bestandsgebäude „aus mehr als den in ihnen gespeicherten Baustoffen und Emissionen bestehen. Denn auch immaterielle, kulturelle Werte sind in Bestandsgebäuden gebunden. Jeder Ort und jedes Gebäude haben ihre eigene Geschichte, die mit den Biografien der Menschen verwoben ist, die dort gewohnt, gearbeitet, gelernt, geliebt, gespielt, gefeiert haben. Eine neue Umbaukultur trägt diese Biografien und Geschichten weiter und reichert sie mit neuen an“. Indem wir uns als Planende für Erhalt, Sanierung und ggf. Umnutzung statt Neubau entscheiden, generieren wir häufig auch einen kulturellen, sozialen, atmosphärischen, emotionalen und gestalterischen Mehrwert – für den Ort und vor allem für die Menschen, die dort leben, so die Bundesstiftung Baukultur.
Wenn Hannover seine Gebäude nach der in ihnen gespeicherten Massen an Baustoffen und Emissionen ranken würde, also nach ihren grauen Energien, würde die Liste wahrscheinlich von unserer „Stadt-in-der-Stadt“, dem Ihmezentrum, angeführt. 58.300 m2 Wohnfläche bzw. rund 800 Wohnungen kombiniert mit ursprünglich 60.000 m2 Verkaufsflächen. Ein echt großer grauer Elefant bzw. eine Wohnmaschine aus dem Brutalismus, die im nächsten Jahr ihren 50sten Geburtstag feiern wird. Mit ein wenig Fantasie und aus geringer Flughöhe betrachtet ein spannendes Projekt, ja sogar eine Perle der deutschen Architekturgeschichte. Denn wenige dieser Stadt-in-der-Stadt Planungen existieren heute noch in Deutschland. Und unser Elefant liegt nicht nur in unmittelbarer Nähe zum Kröpcke, sondern hat sich sogar entlang eines Flusses, der Ihme, entrollt. Eine Besonderheit für die Landeshauptstadt, in der sich das „Pier 51“ als einziges Gebäude übers Wasser gewagt hat, wie Isabel Fiedler zu berichten weiß. Die Hannoveraner*innen und ihre Gewässer sind tatsächlich eine sehr neue Liebesbeziehung, die sich aktuell in der „Leinewelle“ manifestiert. Wo sonst haben wir uns bisher das kalte Nass öffentlich und publikumswirksam erobert?
Die Geschicke der kleinen Brutalismus-Stadt liegen aktuell in den Händen des Berliner Investors Lars Windhorst und wir können nur hoffen, dass von den Social & Environmental Impact-Zielen auf dessen Tennor-Website mehr als nur ein grüner Anstrich ohne Tiefengrund übrigbleiben. Einen nachweislich positiven Einfluss auf das Innenstadtklima wird dagegen schon bald ein anderer Elefant haben. Isabel Fiedler saniert derzeit das 91 Meter hohe Bredero Hochhaus am Raschplatz und hält entgegen früheren Entwürfen an dessen Waschbetonfassade fest.
Statt viele Tonnen Müll durch den Abriss der alten Fassade zu produzieren und diese mit 16.000 m2 in ihrer Herstellung sehr energieintensiven Aluminiumblechen zu ersetzen, bedient sie sich einem alten und lange fälschlicherweise als krebserregend charakterisierten Verfahren: einem Anstrich mit Titandioxid (TiO2). Als hochweiße Farbbeschichtung an der Gebäudeaußenseite in warmen und tropischen Klimagebieten verwendet, können die lichtreflektierenden Eigenschaften zu einer beträchtlichen Energieeinsparung führen, da so die Notwendigkeit von Klimaanlagen reduziert wird. Dank der hohen Deckkraft von titandioxidhaltigen Farben sind keine dicken oder doppelten Beschichtungen erforderlich, was zu einer besseren Ressourcenausnutzung und zur Müllvermeidung führt. Und eine dritte, vielleicht wichtigste, Eigenschaft ist die photokatalytische Luftreinigung: Unter UV-Licht-Einstrahlung, also Sonnenlicht, können Schadgase wie beispielsweise Stickoxide der Luft entzogen werden. Auf der Oberfläche des Titandioxids erfolgt eine Umwandlung von NO (Stickstoffmonoxid) und NO2 (Stickstoffdioxid) in Nitrate bzw. Stickstoffe, auch bekannt als Düngemittel bzw. wichtige Pflanzennährstoffe. Diese Nitrate sind wasserlöslich und werden vom nächsten Regen sprichwörtlich von der Fassade in die weiter unten angebrachten Pflanztöpfe oder in die Kanalisation abgeleitet. In Punkto Oberflächenreinheit funktioniert der Anstrich ähnlich einem Lotusblüteneffekt: Der Stadtstaub wäscht sich ab und das Gebäude bleibt weiß.
Zeitgleich habe sich der Bauherr gefragt, was die Bürger*innen, die täglich die Sockelzone des 23-geschossigen und damit zweitgrößten Hochhauses Hannovers passierten, von seinen Sanierungsabsichten hätten, so Fiedler.
Ja, Sie lesen richtig: Genau diese Frage nach der sozialen Nachhaltigkeit von Architektur, ein für die Auftraggeberseite sonst meist nachrangiger Aspekt, führte vor zwei Jahren zu einer grünen Vision des sogenannten Breitfußes: Sockelbereich sowie 1. bis 4. Stock der Gebäudefassade sollen komplett berankt werden. Während die Pflanzen bereits 2021 geliefert wurden, mussten sie sich jedoch ein weiteres Jahr auf dem Parkdeck vergnügen, bis die aufwendigen Abstimmungs- und Genehmigungsverfahren für eine Grünfassade im Hochhausbereich abgeschlossen waren.
Übrigens spricht auch diese Begrünung gegen das ursprünglich geplante goldene Fassadenblech, schlichtweg weil die Pflanzen das Relief der Oberfläche, den rauen Stein, zum Halt benötigen. Zudem wurde das Entsprechen der ursprünglichen Planung – insbesondere angesichts der aktuellen Energiekrise und Kostenexplosionen – im Prozessverlauf zunehmend zur moralischen Frage. Aluminiumblech in der Dimension von etwa 2 ¼ Fußballfeldern an eine sogenannte kalte Fassade zu bringen, die nicht gedämmt werden muss (weil die eigentliche Dämmebene tiefer im Gebäude liegt), für das es also keinerlei Notwendigkeit und höheren Zweck gab, außer vielleicht dem Entsprechen der ursprünglichen Vision eines goldfarben schillernden Hochhauses in Bahnhofsnähe, war mit der Haltung von Isabel Fiedler und ihrem Team nicht mehr vereinbar. Zum Glück, denn so wird das ebenfalls fast 50 Jahre alte Bredero Hochhaus, ein Waschbeton-Elefant, um bei unserem vorherigen Bild zu bleiben, jetzt zum Citywald mit immer weißem Turm, der – Bäumen gleich – unsere Stadtluft filtern kann. Welch raffinierter Clou!
Auch die drei Scheibenhochhäuser in Herrenhausen sind Relikte aus der Zeit des Brutalismus. Deren Eigentümer, das Studentenwerk Hannover, hatte ursprünglich eine Sanierung im Inneren und eine „kosmetische“ Behandlung der Fassade angefragt. Bekommen hat er ein nach kfw-55 Standard saniertes Gebäude, das technisch auf dem aktuellen Stand ist, dessen Brandschutz den Vorgaben entspricht und dessen ursprüngliche Fassade über einer zusätzlichen Dämmung wieder angebracht werden konnte. Jetzt sieht das erste fertiggestellte Scheibenhochhaus nicht mehr aus wie ein Gebäude aus den Siebzigern, sondern angepasst an die heutige Zeit – ohne dass man sich neuer Materialien bedienen oder das den Bedürfnissen von Studierenden angepasste niedrige Mietniveau sonderlich verändern musste. Das zweite Hochhaus ist aktuell im Umbau, während Nummer 3 noch auf seine Verwandlung wartet. Der Schlüssel zu diesem deutlich umfänglicheren und zeitgleich ressourcenschonenderen Umbau war die damalige Förderlandschaft bestehend aus den Geldtöpfen der Corona-Förderung, N-Bank und kfw-Bank.
Dank ihr war es zusätzlich zu den zwingend nötigen Ertüchtigungen im Inneren möglich, die Aluminiumfassade aus den 90er Jahren abzunehmen, zu katalogisieren, zu reinigen, zu recyceln und in leicht veränderter Form wieder auf die alte Unterkonstruktion zu montieren. Um Müll zu vermeiden, wurde auf die bestehende Dämmung lediglich die Differenzdämmung zum kfw-Standard aufgebracht. Ein kompletter Tausch der Dämmung wäre in Berechnung und Nachweis viel einfacher gewesen, hätte aber auch deutlich mehr Ressourcen verbraucht. Überhaupt wurden hier viele Extrameilen gegangen, denn auch ein Fassadentausch wäre einfacher, jedoch auch kostspieliger gewesen. Hätten Sie gedacht, dass allein das Aluminium eine 700fache Preissteigerung während der Bauzeit von 14 Monaten erfahren hat?!
Neben dem erheblichen planerischen Mehraufwand ob der vielen Einzelnachweise lag die eigentliche Herausforderung darin, Gewerke zu finden, die bereit sind mit Alt- bzw. aufgearbeiteten Materialien zu arbeiten und in die Haftung für eine alte, ertüchtigte Fassade zu gehen. „Wer nimmt das höhere Risiko schon auf sich, wenn die Auftragsbücher mehr als voll sind?!“ erinnert sich die Architektin.
Ein Sanierungsprojekt wie dieses war nur möglich, weil drei Protagonisten das übliche Schema F in Frage gestellt und Haltung gezeigt haben: Auf Seite der Architektur wurde zu Beginn umfänglich sondiert, der Altbestand dokumentiert, es wurden viele Sonderdetails entwickelt und die schwierige Haftungssituation geklärt. Der Bauherr, der ursprünglich nur einen Sanierungszwang im Inneren und keinen in der Fassade sah, ist mit dem Ziel der Energieeinsparung und Substanzerhaltung die Extrameile mitgegangen – trotz erheblichen Mehraufwands auch auf dessen Seite. Schließlich mussten diverse Förderanträge formuliert und eingereicht werden. „Das Studentenwerk hat auf wunderbare Art und Weise diesen Ball aufgefangen und Leute im eigenen Hause darangesetzt, den Sachverhalt (der Förderlandschaft) zu bearbeiten. Eine tolle Teamarbeit!“, so Fiedler. Und last but not least: Die Dienstleisterseite, die sich zu Gunsten der Müllvermeidung und Ressourcenschonung dem höheren Haftungsrisiko aussetzt.
Auf die Frage, was sie persönlich motiviere, häufig weit über das geforderte Maß hinaus in die planerische Verantwortung zu gehen, antwortet Isabel Fiedler: „Wir kommen aus dem Bauen im Bestand, häufig im denkmalpflegerischen Kontext. Da stellt sich nicht die Frage nach Abriss oder Neubau. Mit diesem Bewusstsein und dem Können, konservatorisch zu sanieren, gehen wir in ein Gebäude des Brutalismus und wertschätzen das, was wir vorfinden“. Es gelingt ihr, die Arbeit der vorherigen Architekt*innen zu würdigen und als „eine andere Art der Haltung“ zu begreifen. Denn der Kampf mit den Eltern und das Hochjubeln der Großeltern, sei weit verbreitet. „Jede Generation feiert, was Opa gemacht hat, aber nicht was Papa tat“, so Fiedler. „Bevor wir einem Bauherrn die Empfehlung geben, ein Gebäude abzureißen und neu zu bauen, muss schon eine ganze Menge passieren.“
Kathrin Albrecht im Stadtkind 2/23
Illustration Bredero Hochhaus am Raschplatz: Swantje Osburg, www.illustrewelt.de
Foto: Kathrin Albrecht