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01. Januar 2023

wir sind dran #1

An der Schnittstelle zwischen Architektur und Verantwortung

Mein Name ist Kathrin Albrecht und ich bin Nachhaltigkeitsmanagerin mit Fokus auf das Bauwesen. In dieser neuen monatlichen Kolumne möchte ich deutlich machen, dass Architektur nachhaltig Verantwortung übernehmen kann und muss. „wir sind dran“ erzählt die Geschichten von Menschen, denen ich an der Schnittstelle zwischen Architektur und Verantwortung begegne und die in Hannover wirk(t)en oder ein Kind der Landeshauptstadt sind. Den Prolog in dieser Erzählreihe gestaltet Prof. Dr. Werner Sobek, der deutsche Wegbereiter für verantwortungsvolles und ressourcenschonendes Bauen. 

Bevor wir jedoch einsteigen in Sobeks Erzählung, will ich erläutern, warum so eine Kolumne in ein Stadtmagazin gehört und nicht in ein architektonisches Fachblatt: Weil Architektur uns alle angeht! Rund 90 % unserer Lebenszeit verbringen wir in geschlossenen Räumen – zumindest in Nordeuropa und Nordamerika. Wir haben uns zu einer ‚Indoor Generation‘ gewandelt. Unsere Räume sind Nest und Hülle, Heimathafen und Lernort, Begegnungs- oder Futterstätte, Inspirationsquell, Abschiedsraum oder Genesungszimmer. Während uns Räume manchmal sogar als ‚weiterer Therapeut‘ dienen können (dazu mehr in einer späteren Folge), können uns andere krank machen. Durch den Trend zu energieeffizienten, luftdichten Gebäudehüllen, gepaart mit einer weit verbreiteten Unkenntnis zu einer ausreichenden natürlichen Belüftung, hat sich die Raumluftqualität vielerorts verschlechtert. Teilweise ist sie um ein Vielfaches gesundheitsschädigender als die Außenluft, weil nicht nur das Kochen, Saubermachen und Duschen, brennende Kerzen und das Trocknen von Wäsche, ja sogar Schlafen und Atmen die Raumluft belasten, sondern auch, weil Schadstoffe aus toxischen Materialien wie Plastikspielzeug, Reinigungsmitteln und manchen Baustoffen ebenfalls zur Belastung beitragen. Ein trauriges Zeugnis ist die konstant steigende Zahl von Erkrankungen an Asthma oder Allergien.

Auch auf Umwelt und Klima wirkt der für uns umbaute Raum: 40 % des jährlichen CO2-Ausstoßes (Werner Sobek spricht sogar von über 50 %) gehen auf das Konto des Bauwesens, über 50 % des Müllaufkommens entstehen bei Abriss und baulichen Tätigkeiten und der Großteil der mineralischen Rohstoffe – immerhin das Volumen von zwei vollen Einkaufstaschen pro Mensch und Tag – fließt in diese Industrie. 

„Klimawandel und globaler Ressourcenschwund sind gigantische Herausforderungen, die wir in kurzer Zeit bewältigen müssen. Das Bauwesen ist ein wesentlicher Verursacher beider Probleme, kann aber auch zu deren Lösung beitragen“, heißt es auf der Website des Büros Werner Sobek. Wiederholt verlangt der Ingenieur, wie jüngst auf den Heidelberger Schlosstagen, nach einem Paradigmenwechsel: „Die Zukunft der Architektur liegt darin, für mehr Menschen mit weniger Material und emissionsfrei zu bauen“, sagt er.

Mittlerweile liegt es fast vier Jahre zurück, dass der Bund Deutscher Architektinnen und Architekten (BDA) in seinem Positionspapier ‚Das Haus der Erde‘ u.a. folgendes forderte: „Wir müssen politisch denken und handeln, müssen uns einmischen, Eigeninitiative entwickeln und zivilen Ungehorsam proben. Wir müssen zeigen, dass der tägliche Umweltwahnsinn, wie beispielsweise der ungebremste Flächenfraß, der Vorrang von Neubauten oder der Fetisch Mobilität, nicht alternativlos ist. Ansonsten brauchen wir über eine Zukunft nicht mehr nachzudenken. Wir sind dran.“

Ich erinnere noch vage, wie in den großen Zeitungen Deutschlands gewitzelt wurde, dass sich der Berufsstand der Architekturschaffenden seiner eigenen Existenzberechtigung beraube, indem er das Bauen hinterfrage. Heute wird die Diskussion von der Presse wohlwollender begleitet und in der Baubranche noch differenzierter geführt: Das ‚Klimafestival für die Bauwende‘ in Düsseldorf und der ‚Tag der Umbaukultur‘ in Berlin zeugen davon, dass der Perspektivwechsel tief in das Bauwesen vorgedrungen ist.

Und auch Sobek hat die damaligen Reaktionen der Presse in unserem Gespräch als „intellektuell unzulässige Äußerungen“ abgestraft. „Die Architekten, die ihren eigenen Berufsstand nicht hinterfragen wollen, die haben doch schon aufgegeben, Architekten zu sein. Architektur ist die Antizipation von Zukunft. Sie müssen heute denken und morgen aufzeichnen und übermorgen bauen, was überübermorgen – hoffentlich – gültig ist. Und wenn jemand sich weigert, dieses ‚nach morgen‘ zu denken, dann ist er für mich kein Architekt.“

Sobek hat sich nicht nur mit seinem Unternehmen auf die Entwicklung von Konzepten zur Minimierung von Energie und Materialverbrauch spezialisiert, sondern ist zudem Gründungsmitglied und ehemaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen e.V. (DGNB). Mich interessiert, was ihn motiviert, weit über das geforderte Maß hinaus zu agieren und auch andere von seiner Sicht überzeugen zu wollen.

„Ich habe 1992, damals frisch an die Universität Hannover berufen, eine Vorlesungsreihe mit dem Namen ‚Recycling-gerechte Architektur‘ aufgebaut. Im Kreis meiner Kollegen hat dies ein vollkommenes Unverständnis hervorgerufen, weil man sagte, dass es natürlich sehr wichtig sei, nachhaltig zu sein. Aber die beste Form der Nachhaltigkeit sei doch, so zu bauen, dass man die Gebäude nie mehr um- oder abbauen müsse. Darauf entgegnete ich ‚Schaut aus dem Fenster, was hier wie alt ist?!‘. Denn Tatsache ist doch, dass aufgrund von veränderten Anforderungen an die Nutzung die Dinge verändert werden müssen – bis hin zum Abbruch. Für mich musste jedoch schon damals ein Haus, das ich plante, mit Anstand von der Erde verschwinden können. Das heißt, es muss vollkommen zurückführbar sein in technische und biologische Kreisläufe. Das war der Anfang. 1992.“ 

Kurz darauf entwickelte Sobek das Aktivhaus als Gegenposition zum damaligen Passivhaus-Hype und führte noch vor der Jahrtausendwende das Triple-Zero-Prinzip ein, das besagt, dass ein Gebäude keine aus Verbrennungsprozessen herrührende Energie benutzen, keine Emissionen tätigen und keinen Abfall produzieren soll. 

Neben seiner Idee der drei Nullen stattet Werner Sobek seine Gebäude und Produkte mit einer weiteren Zauberkraft aus. Seine Magie heißt – was bei einem Zahlenmensch wie Sobek auf den ersten Blick verwundern mag – ‚atemberaubende Schönheit‘.

Er zitiert hier Robert Bosch, der mal gesagt hat: „Alles, was ich mache, muss gut sein.“ Ein Produkt brauche Kompatibilität, d.h. eine Verträglichkeit mit der uns umgebenden Natur – und es sollte und kann gleichzeitig atemberaubend schön sein. „Erachten Menschen ein Produkt nicht als schön, dann haben sie keine positive Beziehung zu ihm und werden es nicht pflegen. Wenn die Menschen die Dinge nicht pflegen, dann werden sie auch nicht sehr alt. D.h. diese emotionale Bindung der Menschen an das, was wir tun, ist für mich wesentlich wichtiger als die ingenieurmäßige Brillanz, für die wir vielleicht in der Welt draußen stehen. Die ingenieurmäßige Brillanz ist die Tastatur des Musikinstruments, auf dem wir eine Melodie spielen, und diese Melodie heißt Architektur. Sie ist der Produktionsversuch menschlicher Heimat, in Gänze, mit allem, was dazugehört.“

Sobeks Haltung deckt sich stark mit der Idee der 1919 von Walter Gropius in Weimar gegründeten und 1933 in Berlin durch die Nationalsozialisten geschlossenen Bauhaus-Schule, die noch immer als der erfolgreichste kulturelle Exportartikel Deutschlands gilt. Damals wurde die Unterscheidung zwischen Kunst, Handwerk und Technik zugunsten der Idee des ‚Bau(s) der Zukunft‘, wie Gropius sein Bauhaus in Dessau selbstbewusst betitelte, aufgehoben. Gleichzeitig wurde die Schule allen Nationalitäten geöffnet. Diese Parallele zwischen dem Bauhaus und der Werner Sobek AG, nämlich das interdisziplinäre Arbeiten in internationalen Teams, sorgt u.a. dafür, dass das Unternehmen im Gegensatz zur großen Mehrheit der Akteure im Bauwesen, keine Probleme hat, passende Mitarbeitende zu finden und vor allem zu halten. 

„Dadurch, dass wir Architekten, Produktdesigner, Bauingenieure, Flugzeugingenieure bis hin zu einem Religionswissenschaftler bei uns beschäftigen, haben wir eine sehr große intellektuelle Bandbreite“ so Sobek. „Der Weg, den man gehen möchte, wird aus vielen Perspektiven reflektiert, diskutiert und kommentiert. Dies wiederum führt zu einer Erweiterung des Bewusstseins und vielleicht auch zu einer Veränderung der Wegeführung, im positiven Sinn.“ 

Für mich als Architekturkommunikatorin ist ein anderer Aspekt der ‚atemberaubend schönen‘ Gestaltung fast noch wesentlicher: Auch wenn es schlecht um unser Klima und damit auch um die Zukunft der Menschheit steht, wird es uns nicht gelingen, die Gesellschaft mit einer Entsagungsästhetik für unsere Sache zu gewinnen. 

Sobek zitiert dazu den österreichischen Psychologen und Psychotherapeuten Paul Watzlawick sinngemäß: „Die Menschen halten eine Zukunft nicht aus, die für sie eine Chancenlosigkeit und eine Bedeutungslosigkeit verspricht. Das heißt, wenn ich den Menschen sage, ‚In Zukunft wird alles immer nur schlimmer und wenn Corona vorbei ist, kommen das Global Warming und Verteilungskriege um Energie, um Baustoffe, um Nahrung. Es wird Migrationen ohne Ende geben!‘, dann ist das wissenschaftlich gesehen zu 100 Prozent richtig. Aber wenn man den Menschen mit so einer brutalen Ansage konfrontiert, dann wird man bei den meisten ein sich Zurückziehen in das eigene Environment feststellen. Das heißt, sie beschneiden die Anzahl der Synapsen zur Außenwelt auf ein Minimales und auf das, was zu ihrer eigenen Welterklärung gerade notwendig ist.“ 

Auch ich beobachte, dass vielen die Zusammenhänge von Architektur und Klimawandel bzw. dem eigenen Handeln und dessen Impakt auf unsere Umwelt zu komplex erscheinen. Meist werden die Abhängigkeiten nicht verstanden. Oder Menschen glauben, ihr Beitrag mache keinen Unterschied, egal wie groß er sei, so dass sie schlichtweg weiter machen wie bisher. Also, und hier stimme ich Sobek absolut zu, müssen wir Baukünstler*innen unseren Mitmenschen einerseits zeigen, dass es auch anders geht: Ein nachhaltiges Gebäude kann (und sollte sogar) atemberaubend schön sein, so dass jeder darin wohnen will. „Ich habe Häuser gebaut, da gehen die Leute hin und streicheln die Fassade, weil die taktile Qualität absolut enorm ist. Und das meine ich damit, mit diesem ‚atemberaubend schön‘.“

Gleichzeitig ist es unsere Aufgabe, zu sensibilisieren und aufzuklären. Neben der Überzeugungskraft gebauter Beispiele glaube ich an die Superkraft von Bildern und Geschichten. Für Sobek ist 2,6 die wichtigste Zahl. 2,6. Rendite? Promille? Die Zahl der Erden, die wir eigentlich bräuchten?! Nicht ganz. 

2,6 ist das Nettowachstum der Menschheit pro Sekunde. Warum diese Zahl für alle Bauschaffenden eine elementare sein sollte, erklärt Sobek wie folgt: „Um für diese 2,6 Menschen-Netto-Zuwachs pro Sekunde eine gebaute Heimat bereitzustellen, und das ist ja schließlich unsere Aufgabe als Architekten, Ingenieure, als Bauschaffende, dann müssen wir ungefähr 60 Milliarden Tonnen an Rohstoffen jedes Jahr aus der Erdkruste herauskratzen, zu Baustoffen aufarbeiten, in Halbzeuge, also Vormaterial, überführen und dann auf der Baustelle zu einem Gebäude oder zu einem Infrastrukturvorhaben verbauen.“ 

60 Milliarden Tonnen – noch so eine Zahl. Sobek hat auch hier ein passendes Bild parat. Das entspreche einer Wand entlang des Äquators, 40.000 Kilometer lang, 30 Zentimeter dick und etwa 1,5 bis 1,8 Kilometer hoch, jedes Jahr. 

Und auch für das Thema Urban Greening hält der Baumeister eine Geschichte vor: Der gesündeste Baum aller Zeiten bindet in seiner stärksten Wachstumsphase, quasi in der Pubertät des Baumes, maximal 100 Gramm CO2 pro Tag. Betrachtet man dessen Lebensdurchschnitt sind 30 bis 40 Gramm CO2 pro Tag leider realistischer. Setzen wir jedoch diese positiv gerechneten 100 Gramm pro Tag in Relation zu einem ganz normalen SUV, wird die Rechnung ganz schnell negativ. Denn dieser eine Wagen emittiert 300 Gramm CO2 pro Kilometer. Das heißt, wenn ein Elternteil sein Kind in den Kindergarten fährt, braucht es einen Stadtwald, um diese eine Fahrt zu kompensieren! Man staunt über die tatsächliche Dimension der Fakten.           

Kathrin Albrecht im Stadtkind 1/23

Zeichnung Aegidienkirche: Mila Albrecht, 11 Jahre
Foto: Esther Tusch