wir sind dran #4
Vom Raum nehmen und (fair)teilen
„Raum / Raúm / Substantiv, maskulin [der]. 1. zum Wohnen, als Nutzraum o. Ä. verwendeter, von Wänden, Boden und Decke umschlossener Teil eines Gebäudes (oder) 2. in Länge, Breite und Höhe nicht fest eingegrenzte Ausdehnung“, so erklärt mir Google die konkrete und abstrakte Seite des Raums. Zeitgleich weiß ich, dass Worte Raum schaffen und Raum Worte inszeniert. Ein gegenseitiges Wechselspiel, das zu Bedacht in der Architektur und auch in der Kommunikation mahnt.
Einen ähnlichen Appell habe ich kürzlich bei meinem Besuch der Ausstellung „WHO’S NEXT? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt“ im Museum für Kunst & Gewerbe Hamburg vernommen. Das beeindruckende – und ursprünglich für das Architekturmuseum der Technischen Universität München erarbeitete – Ausstellungskonzept hat selbst mich als Kennerin der Baubranche erschreckt und gleichermaßen wachgerüttelt. Obwohl mir Begriffe wie „feindliche Architektur“, „defensive Architektur“ oder ganz konkret „Anti-Obdachlosen-Architektur“ fremd sind, musste ich mir eingestehen, dass ich viele Anwendungsbeispiele im öffentlichen Raum kenne. Die Ausstellung zeigte jedoch auch auf, inwieweit Architektur der Herausforderung von Obdachlosigkeit positiv begegnen kann. Sie präsentierte unterschiedliche Perspektiven auf die realen Umstände von Obdachlosigkeit – und führte vor Augen, dass es heutzutage jede:n treffen kann. Als Grund für Obdachlosigkeit wird immer wieder Verlust genannt: Verlust von Arbeit, von Gesundheit, von Familie. Brechen berufliche oder private Sicherungsnetze weg, ist die Wohnalternative „Straße“ global gesehen nicht weit: „Nach Schätzungen der UN leben gegenwärtig 1,6 Milliarden Menschen weltweit in unzureichenden Wohnungen oder haben keine dauerhafte Unterkunft“ klärte mich die Ausstellung auf. Außerdem erfuhr ich, dass allein in New York City aktuell 130.000 schulpflichtige Kinder und Jugendliche direkt oder indirekt von Obdachlosigkeit betroffen sind.
Die dramatische Entwicklung ist kein Phänomen ausschließlich jenseits des Atlantiks; vor unseren Haustüren herrschen genauso kritische Zustände: Laut dem DRK – Region Hannover e.V. haben in unserer Region rund 4.000 Menschen kein Zuhause, etwa 400 von ihnen leben dauerhaft auf der Straße. Zeitgleich warnt uns die neue Studie des hannoverschen Pestel-Instituts vor einem neuen Notstand bei den Sozialwohnungen. Matthias Günther, Leiter des Instituts, sagt: „Wir haben eine Rekord-Zuwanderung. Und wir werden 2023 einen Rekord-Wohnungsmangel bekommen: das größte Wohnungsdefizit seit Jahrzehnten“. Das Verbändebündnis „Soziales Wohnen“, zu dem unter anderem der Deutsche Mieterbund, die Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie und die Gewerkschaft IG BAU gehören, fordert einen Kurswechsel von Bund und Ländern: „100.000 Sozialwohnungen first. […] Es geht um einen äußerst sensiblen Punkt, der den sozialen Frieden in der Gesellschaft enorm und akut gefährdet: um das Wohnen – um das Dach über dem Kopf“.
Tragen wir als Baukünstler:innen eine Mitschuld an den aktuellen Verhältnissen? Ist es nicht unsere ethische Pflicht, für Schutzräume zu sorgen?
Das Wort „Raum“ skizziert mitunter eine eher abstrakte Ausdehnung. Zeitgleich sehe ich einen Kreislauf gegenseitiger Abhängigkeiten: Sprache prägt Raum, Räume prägen Menschen und vom umbauten Raum geprägte Menschen gestalten Zukunft. „Die Frage nach dem Raum ist also immer auch eine Frage der Zukunft. Und es geht um weitaus mehr als (nur) Architektur. Es geht um unseren Lebensraum, um den blauen Planeten. Um ein neues Bewusstsein unserer Verantwortung anderen und uns selbst gegenüber.“ [1] Versuche ich die Thematik vollumfänglicher zu durchdringen, wird auch die Diskussion schnell auf eine abstrakte, fast philosophische Ebene gehoben. Ein Metier, in dem meine beiden Gesprächspartnerinnen Anna Brandes und Dr. Tania Ost beheimatet sind.
Die Hannoveranerin Anna Brandes stellt mit unterschiedlichen Formaten Verbindung zwischen Menschen her – und schafft damit die Basis, um gemeinsam Veränderungsprozesse zu gestalten, Lösungsansätze zu finden oder auch Verständnis füreinander zu entwickeln. Ich schätze ihren analytischen Blick und ihr vernetzendes Denken. Möchte eine:r gedanklich aus dem eigenen Silo ausbrechen, bietet Annas Philosopherei-Format die Möglichkeit zu Begegnung – mit Leichtigkeit und Tiefgang gleichermaßen.
Als Ingenieurin im Feld der Architektur, Kommunikationsdesignerin und Doktor der Philosophie beschäftigt sich die Berliner Architekturkommunikatorin Tania Ost schon von „Berufswegen“ mit dem, was an der Schnittstelle von Architektur und Verantwortung geschieht. Wenn Sprache Raum prägt, bestimmt Architekturkommunikation, wie wir Raum wahrnehmen und wertschätzen. Tania ist überzeugt, dass faire Architektur dazu beitragen kann, dass Zukunft möglich wird. Mit der Initiative „who made my space?“ setzt sie sich für faire Architektur(-Kommunikation) ein.
Für mich, architektonisch geprägt, steht „Raum“ für die gebaute Struktur. Der Innen- und Außenraum, die Baukunst. Dabei zeigte sich in unserem Gespräch schnell, dass Raum fast alles bedeuten kann. Kommunikationsraum. Virtueller Raum. Lebensraum. Um diese Räume verhandeln zu können, muss die Bewusstmachung am Anfang stehen, dass es sich um einen Raum handelt, den wir uns mit ganz bestimmten Absichten, unter Berücksichtigung konkreter Spielregeln, mit einem gemeinsamen Verständnis erobern, auf Zeit nutzen und hinterher wieder frei geben. So die Theorie. In der Praxis werden die verschiedenen Räume meist unbewusst genutzt: Sie bekommen nicht die verdiente Wertschätzung. Sorgfalt geht verloren. Es fehlt das Regelwerk. Liegt es daher nicht auch in unserer Verantwortung, bewusst zu hinterfragen, welchen Raum wir gerade nutzen, welche Regeln dort gelten, welche Rechte wir haben? Wie sollte mit ihm umgegangen werden, dem Raum? „Fair!“, fordert Tania.
Für Anna führt der Begriff Wohnraum gedanklich direkt zur Adresse einer Person. Diese ist eine Zuschreibung von außen, stellt sie fest und fragt sich, wie sehr eine Adresse den eigenen Selbstwert beschreibt oder das eigene Gefühl von Zugehörigkeit. Denken wir an den zuvor beschriebenen Kreislauf, so prägt die Zuschreibung das Individuum. Das Umfeld prägt, die Umgebung prägt, der gebaute Raum prägt. Sind wir privilegiert und können uns unsere Adresse aussuchen, entscheiden wir über die Einflussfaktoren, die uns prägen. Anders ist es meist im Kontext des sozialen Wohnungsbaus, wenn Menschen Wohnraum zugewiesen wird.
Hannover hat jüngst einen Weg gelebter Diversität gewählt: Im Südosten der Landeshauptstadt entsteht derzeit das Neubaugebiet Kronsrode als Erweiterung des Stadtteils Bemerode. Mit Blick auf die soziale Nachhaltigkeit hat die Stadt die Bau- bzw. Interessensgemeinschaften dazu verpflichtet, dem geförderten Wohnungsbau einen mindestens 25-prozentigen Anteil an den knapp 4.000 Wohneinheiten zu geben. Als weiteres positives Merkmal sind diese Wohnungen weder am Rand noch auf weniger attraktiven Flächen zu platzieren, sondern haben sich gleichmäßig eingestreut in das Gesamtareal einzufügen. „Die Vorgabe war, dass tatsächlich in jedem Baublock ein Viertel an geförderten Wohnungen ist – das man nicht sieht, weil es dem gleichen Gestaltungsanspruch und dem gleichen baulichen Zusammenhang entspricht“, so die verantwortliche Stadtplanerin Ulrike Hoff. Hannover kann dem Mangel an Wohnraum nicht ausschließlich mit innerstädtischen Nachverdichtungen begegnen, sondern muss weitere Flächenversiegelungen in Kauf nehmen. Angesichts des insbesondere in Großstädten angespannten Wohnungsmarkts fordert die Bundesregierung den Bau von 400.000 neuen Wohnungen jährlich. Ist es damit getan?
„Wir stellen schnell fest, dass Einigen mehr ‚Kästchen‘ zur Verfügung stehen als anderen“, so Tania. „Aber ist dies wirklich nur auf einen Mangel an Wohnraum zurückzuführen? Müssen wir uns nicht eher Gedanken darüber machen, wie viel den Einzelnen zur Verfügung steht? Vielleicht herrscht kein Flächenmangel, wie wir ihn wahrnehmen, sondern unsere Ansprüche an Fläche sind lediglich gewachsen?“
Ende 2021 gab es laut Umweltbundesamt in Deutschland 43,1 Millionen Wohnungen mit einer durchschnittlichen Wohnfläche von 92 qm. Im Schnitt beanspruchte jede:r Einwohner:in 48 qm Wohnraum. Ein Pro-Kopf-Verbrauch, der durch die zunehmende Zahl der Singlehaushalte mit aktuell durchschnittlich 68 qm und das Wohnverhalten älterer Menschen konstant steigt. Weil Senior:innen so lange wie möglich ihr Eigenheim bewohnen und sich in ihrer Art des Wohnens nicht bevormunden lassen wollen, liegt der Flächenanspruch der über 75-Jährigen im Mittel sogar bei 78 qm.
Würden wir die Kästchen, um bei Tanias Bild zu bleiben, fair(er) verteilen und der Empfehlung einer Pro-Kopf-Flächennutzung von 40 qm folgen, wäre wahrscheinlich genug Raum für alle da. Abgesehen davon, führt jeder Quadratmeter Gebäudefläche zu höherem Energie- und Ressourcenverbrauch sowie Schadstoffemissionen, denn der Raum wird beleuchtet, beheizt, mit Bodenbelag versehen und möbliert, muss gereinigt und instandgehalten werden. Wie können wir unsere Mitbürger:innen zu einer gerechteren Verteilung motivieren? „Wir müssen weg von einem Mangelbewusstsein, hin zu einem Füllebewusstsein“, hält die Berliner Architekturkommunikatorin fest und betont, dass nur so Stadt (fair)teilt werden könne. Laut der empfehlenswerten ARTE-Dokumentation „Retten Städte die Welt?“ sind nur 38 % der Deutschen bereit, ihre Wohnsituation zu verändern, um das Klima zu retten, während der Anteil der Willigen in Frankreich bei 63 % liegt. Schuld an unserer geringen Veränderungsbereitschaft ist mitunter der Traum vom Eigenheim. Vor 100 Jahren gab es ihn nicht und in naher Zukunft wird er ausgeträumt sein, aber aktuell bestimmt dieser Wunsch das Leben und Wirtschaften vieler Menschen. In den USA leben derzeit etwa 50 % der Menschen in Eigenheimen. Den massiven Anstieg erlebte Amerika nach dem 2. Weltkrieg, unter anderem begünstigt durch den kalten Krieg, der die Menschen aus den Städten und potenziellen Angriffszielen fliehen ließ. Und auch in Deutschland haben Bausparverträge und Eigenheimsparzulagen Begehrlichkeiten nach den eigenen vier Wänden befeuert. Analysieren wir unsere Wohntypen, so besteht Deutschland zu 2/3 aus Einfamilienhäusern, erklärt die Stadtplanerin Dita Leyh in der Dokumentation.
Wir beanspruchen also im Schnitt zu viel Raum, Ausweisungen neuer Einfamilienhausgebiete sind kontraproduktiv. Es ist höchste Zeit für ein „Umparken im Kopf“. Jedoch muss die Sensibilisierung früh(er) kommen; mit 60 oder 70 Jahren will sich niemand mehr „umpflanzen“ lassen. Vielleicht ist es meine Generation der Mitvierziger, der dieser Shift leichter fallen wird? Einerseits wird uns schon jetzt viel Flexibilität abverlangt. Gleichzeitig haben wir verstanden, dass Raum und Ressourcen endlich sind. Mit Sharing Economy haben die meisten von uns Erfahrungen gemacht und teilen Autos, Roller und Fahrräder mit Leichtigkeit. Wenn mir Wohnraum – bereits ansprechend möbliert mit Einbauküche und -schränken, einem Bad mit Stauraum, bestenfalls einem Waschkeller und einer flexibel dazu buchbaren Gästewohnung – ebenso leicht zugänglich wäre, würde die Anpassung des von mir genutzten Raums an meine aktuellen Bedürfnisse sehr viel leichter fallen, bin ich überzeugt. „So oder so stehen wir als Architekturkommunikator:innen in der Verantwortung. Wir können sensibilisieren, aufklären und Mut machen. Und wir können uns für faire Architektur und ebenso faire Kommunikation einsetzen“, schließt Tania.
P.S. Wer über das Spannungsfeld „Raum“ diskutieren möchte, über die Verantwortung, die wir mit unserem eigenen (Innen- und Wohn-)Raum gegenüber der Welt da draußen haben, ist am 25. April 2023 zu Annas nächster Philosopherei eingeladen. Wir freuen uns auf ein herzlich-kontroverses Gespräch in den Räumen von BAUKUNST.PLUS.
P.P.S. Das ASPHALT Magazin bemüht sich aktuell darum, die Ausstellung „WHO’S NEXT?“ anlässlich des Tages der Obdachlosigkeit (11. September 2023) nach Hannover zu holen.
Kathrin Albrecht im Stadtkind 4/23
[1] Astrid Maria Rappel und Dr. Tania Ost, https://whomademyspace.com [aufgerufen am 21. März 2023]
Portrait Anna Brandes | waldlichtung © Patrick Slesiona
Dr. Tania Ost | who made my space? © Claudia Lommel
Eingang zur Ausstellung „WHO’S NEXT? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt“ im MKG Hamburg © Meldt Albrecht