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01. Juni 2023

wir sind dran #5

„Hinsehen hilft!“ Oder: „Alles nur Fassade?“

Vielleicht sollte ich noch ein weiteres Zitat ergänzen? Nämlich „Alles nur geklaut“, der Titel eines Songs von der Leipziger A-Cappella-Band „Die Prinzen“. Mit dieser Ergänzung will ich gleich zu Beginn meinen doppelten prosaischen Diebstahl im Titel gestehen: „Hinsehen hilft!“ ist der Name einer Veranstaltung, zu der die Lavesstiftung kürzlich ins Alte Rathaus geladen hatte. Dr. Turit Fröbe, Architekturhistorikerin, Urbanistin und Autorin von „Alles nur Fassade?“, einem Bestimmungsbuch für moderne Architektur, hat ihren Zuhörer*innen sehr eindrücklich beschrieben, wie sie Bürgerinnen und Bürgern zu mehr Zufriedenheit mit deren gebautem Lebensraum verhilft. Dabei nannte sie Begriffe wie Empathie, Perspektivwechsel, Unvoreingenommenheit und Rollenspiel.

Kathrin Albrecht, Foto: Christian Clarke
Swantje Osburg, Foto: Marina Schell

Ich verstand, wovon sie sprach – weil ich dieses „wohlwollende Befreunden“ mit meinen temporären Heimaten über die Jahre nahezu perfektioniert habe. Versuche ich einen Überblick über meine Wohnstationen zu gewinnen, komme ich auf 25 Briefkästen, die mein Nachname zierte, in fünf Ländern, auf drei Kontinenten. Städte oder Stadtteile woll(t)en erobert werden. Eine Urlaubs-Städtereise ist nicht zu vergleichen mit einer Meldeadresse und zugehörigem Bäcker „ums Eck“, der einen kennt, Nachbarn, deren Namen man sich gemerkt hat und einem Lieblingscafé, das vielleicht sogar Lieblingsort ist. Gleichzeitig braucht es manchmal gerade diese Haltung eines Reisenden, um sich „mit uneingeschränkter Offenheit auf Entdeckungstour zu begeben“, lerne ich von Turit Fröbe.

Allein in Hannover komme ich seit 2002 auf fünf Adressen in fünf Stadtteilen: Südstadt, Limmer, Oststadt, Nordstadt und List. Immer Altbau, immer Mehrparteienhäuser – und jedes Mal kam ich ein Stück mehr in dieser Stadt an. Obwohl meine Adressen immer Glücksgriffe waren, schien die niedersächsische Landeshauptstadt nur eine Zwischenstation auf meiner Reise. Die Stadt war mir zu grau, zu provinziell, vielleicht sogar zu hochdeutsch. Sie war nicht Berlin und schon gar nicht Hamburg. Sie war das Hannover mit den Hang-over Witzen, die mir selbst im fernen Afrika noch begegneten.

Heute bin ich bekennend #hannoverliebt und kann bestätigen, dass „Hingucken hilft“. Noch mehr, wenn andere, gestalterisch versiertere, Personen genau hinschauen und wohlwollend das zu Papier bringen, was sie sehen. Eine solche Person ist Swantje Osburg, Designerin, Illustratorin und Inhaberin von „Illustre Welt“. Aufmerksame Kolumnenleser*innen können sich vielleicht an Swantjes Darstellung des Bredero-Hochhauses in der Februar-Ausgabe des STADTKIND erinnern.

„Du wohnst in Hannover und niemand glaubt Dir, wie toll diese Stadt ist?“ fragt die Gestalterin auf ihrer Website. Um Schluss mit diesem Vorurteil zu machen, zeigt sie unsere Heimat von ihren besten Seiten. „So wie wir sie täglich erleben, wenn wir nur die Augen aufmachen. Farbenfroh und voller Leben und schöner Momente. Ob Urlaubsfeeling unter Palmen am Maschsee, Naturerlebnis in der Eilenriede oder der Charme der Gründerzeit-Villen in der List oder in Linden“, heißt es weiter.

„… wenn wir nur die Augen aufmachen“. Ich wiederhole diese Bedingung absichtlich, weil Swantje damit die Voraussetzung für eine wertschätzende Wahrnehmung skizziert. Wenngleich wir meinen, unsere Quartiere wie unsere Westentasche zu kennen, sind wir unserer Alltagsumgebung gegenüber blind. Wahrnehmungstheoretiker*innen nennen das Phänomen Alltagsblindheit. Turit Fröbe erklärt unser Handicap mit dem Unvermögen unseres Wahrnehmungsapparat, Architektur wahrzunehmen. Sie zitiert dazu die Architekturpsychologin Alexandra Abel, nach der wir Architektur in 99,9 % unserer Zeit nicht bewusst wahrnehmen. Eine für mich als Baukünstlerin erschreckend hohe Zahl, heißt es doch, dass meine Herzensdisziplin nur in 0,1 % unserer Zeit wirklich gesehen wird. Zeitgleich lehrt mich die Urbanistin Fröbe, dass diese Schwierigkeit in der Wahrnehmung überlebenswichtig sei. Das fange schon mit unserer Körperhaltung an, mit unserem um zehn Grad geneigten Blick, der uns befähigt, in einem Radius von drei Metern den Boden zu scannen, auf Stolperfallen zu achten und sicher voranzuschreiten. Durch diese Haltung nehmen wir Architektur immer nur am Rande wahr, nicht als Ganzes. Zudem können unsere Augen sich wahlweise nur auf die Ferne oder die Nähe fokussieren, beides zeitgleich funktioniert nicht. Im Wechsel zwischen den Distanzen gehen Informationen verloren. Wir konzentrieren uns auf Geräusche wie das hupende Auto oder nehmen das bewegte Schattenspiel der Blätter auf einer Fassade wahr, wir lauschen den Stimmen anderer, erst recht, wenn in einer uns fremden Sprache gesprochen wird. Jedoch das letzte, was wir im Stadtraum wahrnehmen, ist die Architektur. Weil sie das Einzige ist, das sich nicht bewegt. Unterbewusst denken wir, dass wir uns der Baukunst auch später noch widmen können. Und selbst wenn wir dies täten, könnten wir sie nicht konkret erinnern. Denn wir haben kein Fassadengedächtnis, erfahre ich von Turit Fröbe. Dass wir uns Architektur nicht merken können, liegt an unserem unsystematischen Blick. Unsere Wahrnehmung springt von einem Detail zum anderen, von der Gaube zur Türklinke, vom Fenster zur Treppe. Erst wenn wir uns die Mühe machen, eine Fassade zu zeichnen, fangen wir an, systematisch vorzugehen, das Gebäude strukturiert nachzubauen. Ähnliches kann auch mit Worten gelingen, wenn beispielsweise Historiker*innen gebaute Strukturen beschreiben.

Swantje Osburg übernimmt für uns diese Übersetzungsleistung und zeichnet Hannover in einem ihr eigenen Stil – vektorbasiert mit Tablet und Rechner. Spannenderweise hat dieser Prozess verbunden mit einem Genau-Hinsehen-Müssen im Rahmen der Motivsuche auch die Illustratorin selbst zunehmend für die Stadt begeistert. Am Ende des vornehmlich digitalen Prozesses stehen Gute-Laune-Illustrationen zum Verschicken, Aufhängen und Verschenken. Ich habe mich selbst dabei ertappt, Swantjes Postkarten um die halbe Welt zu schicken. Heute schmücken „meine“ Karten die Wände von Freundinnen in Sydney und Kapstadt. Was war da passiert? Wie hatte ich, die ich mich lange zu den Kritiker*innen dieser Stadt zählte, einen leisen Heimatstolz entwickelt?

Vielleicht weil neben Hinsehen auch das Zuhören hilft? Neulich habe ich im Städtoskop, dem mobilen Kulturort, der vom 28. März bis 5. Mai 2023 durch Hannover zog, einem spannenden Literaturformat gelauscht. In der Reihe „Das fiktive Interview“ verknüpfen die Autorin Sabine Göttel und die Journalistin Gabi Steif eigene, aktuelle Fragen mit echten Zitaten berühmter Literaten, die eine Zeitlang in Hannover lebten. Vicky Baum, Schriftstellerin und frühere Harfenistin, wohnte von 1917 bis 1923 erst in Mitte und dann in der Podbielskistraße in Hannover-List. Über das Hannover vor 100 Jahren schrieb sie: „Ich ließ mich vom kreativen Klima der Stadt Anfang der zwanziger Jahre inspirieren, von diesem guten frischen Wind, der in Hannover so aufpeitschend durch Kunst- und Theaterleben fuhr, und dem alles durchdringenden Gefühl, dort in meiner Zeit zu Hause zu sein. Kunst und Leben gingen, so kam es mir vor, zum ersten Mal Hand in Hand.“ [Zitat aus: Vicky Baum: Es war alles ganz anders. Erinnerungen, Frankfurt/M./Berlin 1964]

In Gesprächen wird mir eine ähnliche Wahrnehmung im Heute gespiegelt. Hannover verändert sich, wird kreativer, freier. Seine Bürger*innen wollen mitreden, gestalten und wirken. Ein beeindruckendes Ergebnis privaten Engagements erleben wir aktuell in der Leinewelle, die Hannover nicht nur in die Liga der beliebtesten Fluss-Surfen-Spots katapultiert hat, sondern die ehemalige Ortsmitte in der Nähe des Leineschlosses neu interpretiert.

Nicht weit entfernt liegt das „Weinhaus Wolf“, dem durch die gleichnamige Erzählung von Gottfried Benn der Einzug in die Literaturgeschichte glückte. „Ein schönes altes Haus, altmodisch eingerichtet. Alte Ernst-August-Bilder an der Wand und den ganzen Gotha im Regal. (…) Kaltes Büffet, Korn, Bier. Großer Erfolg. Die meisten hatten bald schwere Schlagseite und langsamen Zungenschlag. Drollig, besoffene Männer!“ [Hahnepeter, Ausgabe 6 – Frühjahr 2023, S. 26] schrieb Benn in seinem teils autobiografischen Prosatext, der während seiner Hannoverjahre zwischen 1936 und 1938 entstand. Auch wenn Benn nicht zu den klassischen Kaffeehausliteraten zählt, so hat er doch gerne seine Nordstadtwohnung gegen halböffentliche Räume wie das „Café Kröpke“, das „Pilsner Urquell“ oder das „Gildebräu“ getauscht, lerne ich im Städtoskop. Zu erfahren, dass vor einem Jahrhundert auch Vicky Baum und Gottfried Benn das „Café Kröpke“ besuchten, hat mich berührt – wenngleich nur noch Name und Ort identisch sind, das heutige Café jedoch bereits der vierte Bau mit identischer Funktion am Kröpke ist.

Traditionsreiche und die Stadtkulisse prägende Orte hat auch Swantje Osburg vor sieben Jahren als Vorlage für ihre „Illustre Welt“ gewählt: Ihre Erstlinge waren damals das Maschsee-Motiv „Frau mit Kopftuch“, das Neue Rathaus und die Reiterstaffel in der List. Während die Illustrationen anfänglich nur als Postkarten in Designläden angeboten wurden, brachte die erste „Designachten“ Teilnahme 2018 den Durchbruch. Obwohl Swantje auf dem Design-Weihnachtsmarkt nur mit acht Motiven antrat – heute vertreibt sie 28 –, haben sie Feedback und Dankbarkeit überwältigt. Der Illustratorin ist es gelungen, den Hannover*innen eine Darstellung ihrer Stadt anzubieten, mit der sie mitgehen konnten. Parallel wurde durch ihren „grafischen Blick“, wie Swantje ihn nennt, ein Interesse entfacht für vermeintlich ungeliebte Gebäude aus der Zeit des Brutalismus, wie z.B. das Ihme-Zentrum, das Bredero-Hochhaus oder das Parkhaus in der Osterstraße. Swantje zeigt heute auch deren Schönheit – und nicht nur die offensichtlich schöne Postkartenidylle.

Anzeiger-Hochhaus,
Illustre Welt, Swantje Osburg
Conti-Turm der Wasserstadt Limmer, Swantje Osburg
Capitol-Hochhaus in Linden
Illustre Welt, Swantje Osburg

Natürlich gibt es auch spannende Fotoreihen zu Hannover. Unbedingt genannt sei an dieser Stelle der Künstler Uwe Stelter, der bereits seit 1996 Orte in Hannover portraitiert, die an andere Städte erinnern. Ein prominent gesetzter Stadtname verweist auf den „Stadtzwilling“. Während Stelters Serie zeigt, wie international und vielgesichtig unsere Stadt ist und uns über den Schriftzug gedanklich an fernere Orte katapultiert, so ziehen uns Swantje Osburgs Stadtansichten tiefer in das, was vor uns liegt. Wir schauen genau hin. Wir heben den Blick.

Die Stadtdenkerin Turit Fröbe kann aus einem vollen Methodenkoffer schöpfen, wenn sie Bürger*innen mit deren Stadt versöhnen will. Ihre wichtigste Frage ist die nach den Lieblingsorten. So kommt sie mit ihrem Gegenüber ins Gespräch, bittet um die Markierung der Orte auf einem großen Plan und erfragt Details und Eigenschaften. Ihre Kolleg*innen aus dem Team der Stadtdenkerei suchen dann diese Orte auf und markieren sie. Überall im Stadtraum entstehen Zeichen, die die Bürger*innen einerseits an der Intervention durch die Stadtdenkerei teilhaben lassen und gleichzeitig für ein Stolpern im übertragenen Sinne sorgen. Der Blick des zufälligen Passanten wird vom Boden hoch zum Lieblingsort eines Mitbürgers oder einer Mitbürgerin gehoben. Parallel entsteht eine Datenbank der Lieblingsorte inkl. ihrer Besonderheiten, begleitet von einer Ausstellung und einem spezifischen Stadtrundgang.

Gefragt nach ihrem Lieblingsort, benennt die Inhaberin der „Illustren Welt“ gleich mehrere Grünräume. Als ihre Kinder noch kleiner waren, waren ihr die Spielplätze in der Eilenriede ein Lieblingsziel. Wo hat man das schon, mitten in der Stadt eine solche Wald-Spiel-Qualität? Swantje Osburg nennt zudem den Georgengarten, liebt den Berggarten und erzählt begeistert von der Stimmung in den Herrenhäuser Gärten morgens um 5 Uhr.

„Wenn Du die Dinge anders ansiehst, dann wird das Ergebnis ein anderes sein!“ sagte einst Max Planck, einer der Begründer der Quantenphysik. In diesem Sinne möchte ich herzlich einladen, es einmal auszuprobieren. Vielleicht seid ihr nach eurem nächsten Stadtspaziergang auch ein wenig #hannoverliebt(er).

Kathrin Albrecht im Stadtkind 6/23