wir sind dran #7
… und schauen zurück auf 40 Jahre AG Stadtleben
Meine Kolumne erzählt regelmäßig die Geschichten von Menschen, die an der Schnittstelle von Architektur und Verantwortung wirken. Warum? Weil die gebaute Welt einen großen Impakt auf Klima, Umwelt und die Gesellschaft hat – im Positiven wie im Negativen. Die gute Nachricht: Der Status quo ist nicht in Stein gemeißelt.
„The world changes according to the way people see it, and if you can alter it, even by a millimetre, the way people look at reality, then you can change it”, so der US-amerikanische Schriftsteller James Baldwin. Das Zitat ist mir diesen Sommer auf der Architektur-Biennale in Venedig begegnet und irgendwie an mir kleben geblieben, denn ich zitiere es hier nicht zum ersten Mal. Der 1987 verstorbene Baldwin hat in seinen Werken meist die Themen Rassismus und Sexismus verhandelt; seine Worte erleben seit „Black Lives Matter“ ein Revival. Ein Leben lang forderte Baldwin Wandel, vor allem im Mindset. Diesen Veränderungswillen braucht unsere Gesellschaft auch in Hinblick auf einen anderen Wandel, nämlich den des Klimas. Spätestens seit diesem Sommer mit seinen täglichen Superlativen in Form von Naturkatastrophen sollte einem jedem und einer jeden klar sein, dass die Veränderung von Wetter, Klima und Umwelt in Teilen menschengemacht ist und durch uns mit einem Turbo ausgestattet wurde.
Zehn von insgesamt 195 Ländern dieser Welt sind für 2/3 der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. Deutschland, das einen Anteil von 1,7 % an der Weltgesamtemission hält, steht auf Platz 7 der Impaktliste. 188 Länder haben demnach einen geringeren CO2-Fußabdruck als wir. Architects 4 Future benennen als eines von drei „Problemen der Architektur“ den etwa 40-prozentigen Anteil am deutschen CO2-Austoßes durch Herstellung und Betrieb von gebauter Struktur. Der Ingenieur Werner Sobek fordert schon lange einen Paradigmenwechsel: „Die Zukunft der Architektur liegt darin, für mehr Menschen mit weniger Material und emissionsfrei zu bauen“, sagt er. Damit wir – und Sobek adressiert ausdrücklich nicht nur die Baukünstler:innen unter uns – den Impakt des Bauwesens besser greifen können, schreibt der Experte für Nachhaltiges Bauen an einer Triologie mit dem Namen „non nobis – über das Bauen in der Zukunft“. Während in dem 2022 erschienenen Band 1 der Status quo des Bauens und seine Wechselwirkung mit Umwelt, Klima und Gesellschaft definiert wird, führt Werner Sobek mit Band 2 der im Oktober 2023 bei av edition erschienenen Reihe seine umfassende Analyse der Zusammenhänge von Bauen und Umwelt fort. „Sein Fokus liegt diesmal auf den Entwicklungen, die wir in den kommenden Jahrzehnten zu erwarten haben, und auf den Randbedingungen, innerhalb derer menschliches Handeln überhaupt noch möglich sein wird“, heißt es im Pressetext.
„Wie also sieht ein integraler Ansatz für das Bauen der Zukunft aus?“ fragt daher die AG Stadtleben den deutschen Wegbereiter für verantwortungsvolles und ressourcenschonendes Bauen. Die Antwort wird Sobek am 28. November 2023 im Pavillon Hannover liefern. Dieser Abend wird nicht nur ob des honorigen Gastes ein besonderes Ereignis werden: Seit nunmehr 40 Jahren setzen sich anfänglich sieben und heute sechs Menschen unter dem Namen „AG Stadtleben“ dafür ein, der Baukultur in Hannover zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen. Zum runden Jubiläum ihrer „Bühnenpräsenz“, die im November 1983 mit einer Veranstaltungsreihe im Kulturzentrum Pavillon ihren Anfang nahm, laden sie sich jemanden an den Geburtsort ihres Tuns, der schon früh über Lebenszeit und Weiterverarbeitung von Architektur nachgedacht hat. Einen „offiziellen Bund“ sind die Akteur:innen übrigens 1985, nach bereits zweijähriger Aktivität, eingegangen und haben mit sieben Gründungsmitgliedern die AG Stadtleben als unabhängigen, gemeinnützigen und eingetragenen Verein in Hannover ins Leben gerufen. Seitdem wurden durch sie mehr als 350 Veranstaltungen und Ausstellungen organisiert – immer um eine sachkundige, interdisziplinäre Auseinandersetzung um Stadt und Kultur, Architektur und Gesellschaftsentwicklung sowie die Veränderungen großstädtischer Lebensbedingungen bemüht. Der Bogen der Veranstaltungen ist weit gespannt und hat sich in den letzten vier Jahrzehnten oftmals nicht grundsätzlich geändert. Abgesehen von Smart City und Klimawandel sind viele Themen neu etikettiert oder Akzente mittlerweile anders gesetzt.
Obwohl die Angebote in der Regel immer noch Baukultur verhandeln, sind nicht alle sechs ehrenamtlichen Jubilare und ‚Daueraktive‘ Baumeister:innen oder als solche tätig.
Achim Naujock (Gruppenbild li.), Dipl.- Ing, ist im aktiven Berufsleben Mitarbeiter einer Kommunalverwaltung, während Reinhard Wolf (2.v.l.), der als Architekt und Stadtplaner sowie als Lehrbeauftragter an der Leibniz Universität Hannover tätig ist, auch im Vorstand der AG Stadtleben wirkt. Susanne Lengner ist diplomierte Grafik-Designerin, Gestaltungschefin und AG Stadtleben Frau der ersten Stunde. Ulrich Schröder (3.v.r.), Dipl.-Päd., ist Gründer und Vorstandsmitglied der AG Stadtleben, zudem im Vorstand des Bildungsvereins tätig und bringt die Bildungsperspektive in die Diskussion. Wolfgang Niess (2.v.r.) ist Architekt und als langjähriges AG Stadtleben-Mitglied im Vorstand und für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig; parallel wirkt er auch im Vorstand des Bildungsvereins. Wolfgang Müller (re.) ist Soziologe und bringt die sozialwissenschaftlichen Aspekte in die Vereinstätigkeit ein. Wie die Arbeitsgemeinschaft vor 40 Jahren genau zueinander fand, erinnert sich Ulrich Schröder:
„1983 war ich im Pavillon tätig, der damals seinen Schwerpunkt verlagerte – von der offenen Jugendarbeit hin zu einem politischen Veranstaltungs-zentrum. Man war gewillt, all den Ideen und Themen, die damals in Hannover schwelten, allen voran der Widerstand gegen den Ausbau der Verkehrs- und Wasseradern, Raum zu geben. Also lud ich diverse Gruppie-rungen und Bürgerinitiativen zur aktiven Auseinandersetzung zu uns ein.“
In der Vernetzung und Zusammenarbeit entstand das Projekt „Stadtleben, Stadterfahrung“, das im November 1983 in einer Projektwoche mit Ausstellungen, Vorträgen und Diskussionen mündete. Weil das Format sehr erfolgreich und der Wille zur Verstätigung gegeben war, bildete sich – in leicht veränderter Konstellation – in der Folge die „Arbeitsgruppe Stadtleben“.
Kürzlich las ich einen Appell von Gunnar Spellmeyer, seit 1988 als Designer und zudem seit 23 Jahren als Professor an der Hochschule Hannover tätig, an die hiesige Kreativszene: „Nicht entmutigen lassen! Hannover erscheint wie eine Verwaltungsstadt – das Herz aber schlägt innovativ, der Geist ist kreativ.“ Ich mag das Zitat, unterstreicht es doch eine Seite der Landeshauptstadt, die ich sehr schätze. Wer sich in Hannover auf die Suche begibt, findet jede Menge Angebote.
Wenn wir uns einen verkürzten Ritt allein durch die jüngste Veranstaltungshistorie der AG Stadtleben erlauben, so durften wir im Juni 2023 im Laveshaus der Architektenkammer Niedersachsen Tim Rieniets, Professor für Stadt- und Raumentwicklung in einer diversifizierten Gesellschaft an der Leibniz Universität Hannover, lauschen. Rieniets hat das Modell der Smart City, der Stadt der Zukunft, von seinem Sockel geholt und aufgezeigt, „wie uns das Leben in der analogen Stadt innovativer und effizienter macht und warum uns die Reibung, der wir dort tagtäglich ausgesetzt sind, sogar dabei hilft“.
Wer sich für die Bauwende und damit für ein „angepasstes“ Bauverständnis interessiert, begegnet fast automatisch Rieniets wieder, diesmal als Mitautor des Buches „Umbaukultur – Für eine Architektur des Veränderns“.
Aller guten Dinge sind drei, heißt es. Entsprechend will ich auch noch die bis zum 9. November stattfindende Ausstellung „Nichts Neues – Besser Bauen mit Bestand“ benennen. Auch sie trägt in Teilen Rieniets Handschrift und zeigt uns einmal mehr, dass das Bauen mit dem Bestand nicht nur sinnvoll ist, sondern auch zu architektonisch außergewöhnlichen Lösungen führen kann.
Zu sehen sind 24 internationale Projekte renommierter Architekt:innen, gezeigt in einer vom Deutschen Architekturmuseum (DAM) kuratierten Schau, sowie Projekte aus Hannover, die von Studierenden der Fakultät Architektur entworfen wurden.
Außerdem wird in der Ausstellung erstmals der Abriss-Atlas Deutschland präsentiert (www.abriss-atlas.de). Kaum zu glauben, aber bis dato gab es kein Kataster der abzureißenden oder abgerissenen Gebäude in Deutschland. Dadurch, dass die in Basel von der Initiative Countdown 2030, Verein für zukunftsfähige Baukultur, erdachte Idee für Deutschland maßgeblich in Kooperation mit der Fakultät für Architektur und Landschaft der Leibniz Universität Hannover umgesetzt wurde, erscheint es aktuell noch, als sei Hannover Deutscher Abrissmeister. In Wirklichkeit sind wir einfach nur schneller in der Datenbankpflege. Thematisch passend wird die Ausstellung im Hannoveraner aufhof gezeigt, einem kürzlich geschlossenen Warenhaus, das wohl bald einem Neubau weichen muss.
Auch einer der 2022er Referenten der AG Stadtleben, Constantin Alexander, hat als Politikwissenschaftler und Nachhaltigkeitsökonom an der Leuphana Universität Lüneburg zum Wandel unserer Städte geforscht und uns Hannoveraner:innen vor allem seine für die Landeshauptstadt relevanten Ergebnisse präsentiert, zuletzt im August 2023 im Kontext des von kreHtiv veranstalteten IDN-Blvd. am Maschsee.
Die Liste spannender Referent:innen und/oder Orte ist lang. Einige von Euch erinnern sich vielleicht an Philipp Oswalt, der 2019 – und damit im Jubiläumsjahr – zu Bauhaus, Kultur und Geschichte sprach. 2017 fragte Rainer Nagel, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur, „Was tun?“ und 2015 sprach Meinhard von Gerkan († 2022), Gründer des renommierten Architekturbüros gmp Architekten, im 16. OG des Bredero Hochhauses zu Architektur und Qualität. Weil die dringend nötige Verkehrswende zu Recht häufig zusammen mit dem Klimawandel und der Bauwende genannt wird, will hier auch die Üstra-Remise als ganz besonderer Vortragsort des Impulses „Showroom oder Lebensraum“ von dem Architektur- und Designtheoretiker Friedrich von Borries in 2013 genannt werden.
Während die AG Stadtleben in den von ihr gesetzten Themen und eingeladenen Personen häufig ihrer Zeit voraus ist, hat sie immer auch Hannovers gebaute Stadtgeschichte im Blick und feiert die Baukunst zu runden Geburtstagen. 2008 beispielsweise wurde das 80-jährige Bestehen des Anzeiger-Hochhaus mit einer Filmreihe gewürdigt und die Begehung der Terrasse ermöglicht. Ein richtig dickes Brett hat die Gruppe aus Ehrenamtlichen 1991 gebohrt, als sie anlässlich der 750-Jahr-Feier der Stadt Hannover das Projekt „Ungebautes Hannover“ mit Fördermitteln des Land Niedersachsen konzipiert hat. In Form eines Buches und einer Ausstellung mit vier Stadtmodellen wurden von ihr Ideen und Vorstellungen, die nicht baulich verwirklicht wurden, dokumentiert. Denn auch alternative Planungen sind Teil unserer Baukultur und können womöglich zukünftige Bauprojekte inspirieren, heißt es im Vorwort. Außerdem schreibt Walter Hiller, seinerzeit Nds. Sozialminister:
„Wo liegen die Wurzeln von Baukultur und Bautradition? Ist es nur das real Vorhandene, das, was die Bauleute die zu Backstein gewordene Geschichte nennen? Es ist sicher weitaus mehr! Der Verdienst der AG Stadtleben ist es, sich speziell dem Ungebauten, den nicht verwirklichten Plänen, Ideen und Stadtbauvorstellungen zugewandt und sie durch Aufarbeiten und Zusammenstellung ins Bewusstsein zurückgeholt zu haben. Mich hat diese Idee fasziniert!“
Als kleiner Sidekick sei das Buch „Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit“ der Historikerin Annette Kehnel empfohlen. Das Buch zeigt auf überraschende Weise, wie lohnend das Vorwärts in die Vergangenheit sein kann und wieviel wir von kulturellen, sozialen und ökonomischen Praktiken des Mittelalters lernen können. Die Nachhaltigkeits- und Baukunst-Detektivin Petra Ronzani (DETEKTEI RONZANI) nimmt am 13. November im Literarischen Salon das “Was, Wie und Warum wir auch anders konnten” unter die Lupe.
Gefragt nach ihrem Wunsch für das nächste Jahrzehnt antworten die Geburtstagskinder der AG Stadtleben übrigens unisono, dass es ihnen weiterhin gelingen möge, interessante Veranstaltungen zu konzipieren. Klar doch, wir freuen uns auf mehr!
Kathrin Albrecht im STADTKIND 11/2023