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01. Dezember 2023

wir sind dran #8

Architektur aus Kinderaugen oder: Baumeister*innen der Zukunft

Für die finale Ausgabe von „wir sind dran“ in diesem Jahr und in dieser Form haben wir uns etwas Besonderes ausgedacht: ein Takeover. In diesem Monat übernehme ich die Kolumne. Mein Name ist Esther Tusch, und ich arbeite seit über zwei Jahren eng mit Kathrin Albrecht bei BAUKUNST.PLUS zusammen, wo ich die Online-Kommunikation unterstütze. Diese Zeit hat meinen Wissenshorizont in den Bereichen Architektur und Nachhaltigkeit erheblich erweitert. Trotzdem liegt meine Haupt-Expertise in der Vermittlung von Kultur und Bildender Kunst. Als studierte Kulturvermittlerin werde ich mich heute daher aus der Perspektive der Vermittler*innen dem Thema Architektur nähern.

Esther Tusch
Kathrin Albrecht, Foto: Christian Clarke

„Wahrnehmen“ ist das Schlüsselwort, wenn es darum geht, Architektur zu vermitteln. Denn auch wenn wir es im Alltag mit unserem oft ungeschulten Blick häufig vergessen: Architektur ist eine der ältesten Kunstformen – die BauKUNST. Um Architektur als solche wahrzunehmen, den eigenen Blick zu schulen, das Verständnis von Architektur zu vertiefen und sich mit dem Raum um uns herum auseinanderzusetzen, bedarf es des Erlernens oder manchmal auch des Wieder-Erlernens. Hier kommt die Vermittlung ins Spiel: von einfachen Info-Tafeln an Häuserfassaden über Stadtführungen von Laien und Profis bis hin zur aktiven Teilnahme an der Stadtentwicklung. All das kann gute Vermittlung leisten.

Wichtig ist die Einbeziehung aller Teilnehmer*innen mit ihren unterschiedlichen Perspektiven, Meinungen, Erfahrungen und Empfindungen. Vermittlung ist eine gemeinsame Arbeit. Für mich geht es darum, Wissen zu teilen, voneinander zu lernen, sich gegenseitig zu stärken und eine individuelle, aber auch gemeinsame Auseinandersetzung mit der Kunst zu ermöglichen. Sichtweisen sollen hinterfragt, Räume neu betrachtet und mit allen Sinnen erfasst werden.

Meist wird Architektur rein nach Form, Dimension, Farbe oder Material betrachtet, und eine persönliche Auseinandersetzung mit dem Werk findet oft nicht statt. Aber was, wenn ein Raum erfühlt, ertanzt oder erspielt wird? Sinnliche Wahrnehmung, ein experimenteller Umgang mit Raum und die interdisziplinäre Verbindung künstlerischer Ansätze können nachhaltig bereichern und den eigenen Horizont erweitern.

Ein ähnlicher Vermittlungsansatz begegnete mir vor einigen Monaten in einem Projekt der Kestner Gesellschaft. Katja Krause, verantwortlich für die Kunstvermittlung für Kinder & Jugendliche in der Kestner Gesellschaft, bot BAUKUNST.PLUS an, Teil eines interdisziplinären Projektteams zu werden. Wir sagten zu: Kathrin (mit ihrer Architektur-Brille) und ich (mit meiner Perspektive als Vermittlerin) fanden die Idee spannend, gemeinsam mit anderen Raumdenker*innen das von Katja initiierte, geleitete und umgesetzte Kulturprojekt zu unterstützen.

Ende September kam der gesamte 7. Jahrgang der IGS Roderbruch, im Rahmen einer vom Kulturkoordinator Felix Rumpf organisierten Aktionswoche, für verschiedene Workshops zum Thema „aufRäumen“ in die Kestner Gesellschaft. Der Ansatz: Jugendliche sollten „mitten in der Kunst, durch die Kunst“ und durch Interaktion und Partizipation mit dem Thema RAUM konfrontiert werden. Eine ständige Begleiterin dabei war die Ausstellung „Der neue Mensch, der Ansager, der Konstrukteur. El Lissitzky: Das Selbstbildnis als Kestner Gesellschaft.“

„Als Typograf, Architekt, Maler, Grafiker und revolutionärer Denker war Lissitzky überzeugt vom Potential der Kunst und vor allem der Architektur, und davon, diese zur Schaffung einer neuen Gesellschaft, in der alle Menschen gleichgestellt sind, einzusetzen. Mit dem Projekt ‚aufRäumen‘ wollten wir mit den 120 Schüler*innen der IGS Roderbruch in einen intensiven Austausch gehen, ihnen Raum bieten für persönliches Wachstum, für das ‚Verstehen‘ von Gesellschaft und für das MiteinanderLeben“, erklärt Katja Krause.

„Für mich steht beim Vermitteln das Wecken von Neugier, das Erfahren und Erleben im Vordergrund“, betont die Kulturvermittlerin. Das Projekt sollte die Jugendlichen in ihrer Lebensrealität abholen, persönliche Bezüge zum Thema Raum schaffen und gleichzeitig Raum für den Austausch über eigene Erfahrungen und Probleme bieten. Jeder Tag der Woche war einem anderen Motto gewidmet: Soundraum, Wunschraum, imaginärer Raum, mein persönlicher Raum und Stadtraum. Dabei wurden verschiedene kreative Techniken kennengelernt und angewandt. Das absolute Highlight der Schüler*innen war die Zusammenarbeit mit Deeskalations-, Kampfsport-, Konflikt-Management-Trainer und Buchautor Sascha Zertz. Fragen wie „Wie viel persönlichen Raum brauche ich?“ und „Was kann ich machen, wenn jemand in meinen persönlichen Raum eindringt? Wie achtsam gehe ich mit dem Raum anderer um?“ wurden erfahren und diskutiert. 

Immer wieder wurde auch mit dem Außenraum und der eigenen Aneignung gearbeitet. Beim Thema Soundraum wurden Geräusche aus dem Stadtgeschehen aufgenommen, in den Innenraum gebracht und mit persönlichen Geschichten verbunden. Katja erinnert sich an einen Schüler, der beim Geräusch von fahrenden Autos an seine Heimat Polen dachte und den Sound mit seinen Autofahrten nach Hause verband. Am letzten Tag entstand ein gemeinsames kreatives Kunstwerk zum Thema Stadtraum: Die Schüler*innen gestalteten eigenständig einen Stadtplan der Zukunft auf einer großen LKW-Plane. Mit verschiedenen Materialien und Techniken wurden ihre Wünsche für Freizeitangebote visualisiert. „Eine breite Auswahl an Räumen für Freizeitaktivitäten war den Jugendlichen wichtig: Basketballplätze, Fußballfelder, viele Grünflächen und Schwimmbäder“, berichtet Katja.

Projekt „aufRäumen“ auf Instagram © IGS Roderbruch

Das Projekt wurde eine Woche lang auf dem Instagram-Account der IGS Roderbruch (@igs.roderbruch) dokumentiert, um die Ergebnisse und Erfahrungen der Schüler*innen lebendig zu präsentieren. Katja Krause zieht ein positives Resümee: „Die Projektwoche war zwar erschöpfend, aber beglückend. Die Schüler*innen haben viel von sich gezeigt, fühlten sich in unserem Raum sicher, konnten Aspekte von sich neu kennenlernen und sind mit einem neuen Blick auch auf uns als Institution aus dem Workshop gegangen.“ Nach unserem Gespräch teilte mir Katja mit, dass das Projekt voraussichtlich 2024 für ein ganzes Jahr mit dem 8. Jahrgang der IGS Roderbruch fortgesetzt werden kann. Es ist erfreulich zu sehen, dass gute Ideen weitergeführt werden. Hier zeigt sich Nachhaltigkeit in ihrer besten Form – für alle Beteiligten!

Als innovative Kultureinrichtung schafft es die Kestner Gesellschaft durch Vermittlung, ein junges und vielfältiges Publikum dazu zu bringen, sich mit sich selbst und der (gebauten) Umwelt auseinanderzusetzen. Die Frage, die sich stellt: Was ist noch möglich mit (Architektur-)Vermittlung?

Ein wichtiger Begriff in Bezug auf Vermittlung – und heutzutage schon ein Buzzword – ist die Teilhabe. Teilhabe und Architektur? Wie passt das zusammen? Können wir unsere Stadt mitgestalten? Die Stadt Hannover sagt seit einigen Jahren: ja! Jede*r kann mitmachen – theoretisch. Aber was ist eigentlich zum Beispiel mit denjenigen, die unsere Zukunft sind? Kinder und Mitbestimmung in der Stadtplanung? Geht das überhaupt? Warum nicht, sage ich. Wenn es um Bürger*innenpartizipation geht, dann doch bitte auch mit den kleinsten Bürger*innen! Also bitte auch die Stimme von Kindern hören und ihnen zuhören. Und deswegen habe ich für diese Ausgabe der Kolumne im Kleinen angefangen und Kathrins Kindern Mila (12 Jahre) und Mattes (10 Jahre) Fragen gestellt – und zugehört. Die Fragen reichten von der persönlichen Ebene, wie dem eigenen Traumhaus, bis hin zur gesellschaftlich relevanten Frage: Wie würdet ihr gerne bei der Stadtplanung mitentscheiden und was würdet ihr ändern?

Bei der letzten Frage antwortet Mila sofort: „Ich fände es richtig cool, wenn ich bei der Planung der Stadt mitentscheiden kann. Ich habe keine Ahnung, wie das geht. Es wäre toll, wenn man uns erklärt, worum es bei der Stadtplanung geht. Zum Beispiel könnte man mit seiner Klasse einen Workshop machen, wo Architekt*innen uns erklären, wie wir unser eignes Modell/ Haus bauen.“

Das Thema Klimaschutz ist für beide sehr wichtig. Mila berichtet: „Ich würde mehr Parks in die Städte bauen – einfach mehr Grün! Es ist sehr schön und gut für die Umwelt. Und Dachgärten und Dachterrassen mit vielen verschiedenen Pflanzen auf großen Kaufhäusern anbauen. An den Straßen sollten mehr Bäume oder bunte Beete mit Blumen gepflanzt werden.“ Mattes ergänzt: „Ich würde einzelne Flecken in der Stadt miteinander mit großen Parks verbinden. Ich würde nicht so große Häuser bauen und Bäume in Häusern wachsen lassen!“ Und wie sollte für Kinder gebaut werden? Mattes antwortet: „Ich würde Gebäude für Kinder bauen, wo Sachen drin sind, die Spaß machen. Einen Kletterbaum oder eine Art Hochebene, wo man drauf klettern kann und oben stehen kann und rumlaufen kann. Oder einfach eine Sitzecke mit Kissen, wo man sich nach einem harten Schultag einfach reinsetzen kann, hinlegen und schlafen kann.“ Mila fügt hinzu: „In Bibliotheken sollte es Bastelecken geben, dann können Eltern ungestört arbeiten und die Kinder können basteln. Außerdem sollten alle Häuser große Fenster und viel Licht haben – am besten sollten Balkons an jedem Zimmer sein, dann kann man auch sein eigenes Beet anpflanzen.“

Hannovers Zukunft aus Kindersicht © Mila, 12 Jahre

Auch Barrierefreiheit für Kinder ist den beiden wichtig: Treppen sollten mehrere Geländer haben, auch für kleine Kinder. Und von außen sollten Gebäude nicht mehr so grau sein – bunte Wände mit Kunstwerken müssen her, meint Mila. Mattes würde generell auf graue Häuser aus Beton verzichten.

Ein wichtiger Aspekt, den auch Kulturvermittlerin Katja Krause immer wieder nannte, war die persönliche Ansprache der Kinder und Jugendlichen und die persönliche Verknüpfung mit deren Themen. Wenn Kinder und Jugendliche sich mit ihrer eigenen Stadt identifizieren sollen, dann müssen auch ihre Erfahrungen und Geschichten erzählt, ernst genommen und wertgeschätzt werden. Vermittlung mit kreativen Methoden und die Verbindung von verschiedenen Künsten können als Katalysatoren dienen und Kinder auf Augenhöhe erreichen.

Kürzlich entdeckte ich einen Flyer des Projekts „Denk mal an“ vom Cameo Kollektiv, in dem eine Stadtführung durch das „Hannover der Vielfalt“ kreiert werden konnte. Die Führung sollte unterschiedliche Perspektiven einer diversen Erinnerungskultur aufnehmen und die Stadtgeschichte aus neuen Blickwinkeln beleuchten. Die Entwicklung der Führung erfolgte in Zusammenarbeit mit mehreren Workshops unter der Leitung von Expert*innen.

Die Konzeption von Stadtführungen ist zwar keine neue Idee, jedoch können gut umgesetzte Führungen und die dabei erarbeiteten Inhalte einen bedeutenden Beitrag zur Stadtkultur sowie zu einer zeitgemäßen und vielfältigen Stadtentwicklung leisten. Ich persönlich denke, dass mehr Menschen zusammen solche Stadtführungen gestalten sollten. Denn die Geschichte unserer Stadt ist genauso wichtig wie das, was gerade passiert und was auf uns zukommt. Vor allem Kinder und Jugendliche spielen dabei eine wichtige Rolle, weil sie die Stadt der Zukunft erleben.

Es ist unerlässlich, dass sie nicht nur im Diskurs präsent sind, sondern auch eine aktive Rolle bei der Planung und Entwicklung ihrer Umgebung einnehmen können. Wir sollten darauf hinarbeiten, dass die Vielfalt der Stadt nicht nur erlebt, sondern auch aktiv mitgestaltet wird. In einer Gesellschaft, die alle Stimmen gleichwertig schätzt und integriert, können wir eine lebendige, inklusive Stadt schaffen, die den Bedürfnissen und Träumen aller gerecht wird.

Esther Tusch

„Wer loslässt, hat die Hände frei.“ Oder: „Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere.“ In meinem Fall wäre hier der Plural richtiger – ich sehe viele Türen. Alle Möglichkeitsräume zu nutzen, übersteigt meine Kapazitäten. Fokus ist angeraten, gerade auf dem Weg zum Gipfel.

Dieses Format habe ich konzipiert, um auch Nicht-Bauschaffende für die Superkraft der Baukunst zu sensibilisieren und aufzuzeigen, dass ein jeder und eine jede den Impakt-Hebel des selbst genutzten Raums in eine bessere, fairere Richtung umlegen kann. Auch wenn diese Kolumne an diesem Ort vorerst die letzte sein wird, werde ich weiterhin Möglichkeiten aufzeigen, z.B. indem ich Akteur*innen des Bauwesens im Bereich des Nachhaltigkeitsmanagement aus- und weiterbilde. All das geschieht seit Sommer unter dem Dach von \\\: wir sind dran, einem Akademieprojekt von BAUKUNST.PLUS, das in 2024 ausgegründet wird.

Während ich mich noch spitzer auf die Impact-Frage meiner Branche fokussiere, kehrt meine Kollegin Esther Tusch zu ihren beruflichen Wurzeln zurück. Nicht nur im Rahmen ihres Takeovers hier. Der Abschluss unserer gemeinsamen Reise hätte nicht schöner und wertschätzender enden können als auf dieser „Wortbühne“. Alles Gute für Dich, liebe Esther, und Danke, STADTKIND, für diesen Raum auf Zeit! Es war uns nicht nur eine Herzensangelegenheit, es war uns ein Fest!

Kathrin Albrecht im STADTKIND 12/2023