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01. März 2023

wir sind dran #3

Wie das Kaffeegeschäft die Bausubstanz stabilisiert

Für die März-Ausgabe dieser Kolumne habe ich mir eine Gesprächspartnerin ausgesucht, deren Wirken an der Schnittstelle von Architektur und Verantwortung nicht direkt ersichtlich wird. Warum? Am 8. März ist Weltfrauentag. Anna Lina Bartl, Kaffee-Produzentin, Gründerin von MULEMBE Kaffee und Protagonistin dieser Kolumnenfolge, hat mich nicht nur mit ihrer konsequenten Haltung und Lieferkettentransparenz begeistert. Die junge Unternehmerin ermächtigt mit ihrer Arbeit die Kaffeebauern und -bäuerinnen ebenso wie Frauen und Mädchen im Anbaugebiet des von ihr produzierten und vertriebenen Kaffees. Der Bogen wird diesmal etwas größer. Nehmen Sie sich eine Tasse Kaffee und tauchen Sie ein in die Welt von Kaffeebohnen, weiblichen Tabus und Architektur.

Anna Lina Bartl, Foto: Luisa Höhne

Anna Lina Bartl und der Kaffee ist eine Liebesbeziehung, die schon 2007 in Hannovers Liepmannstraße begann. In der Kaffeerösterei Ulbrich verdiente sie sich als Schülerin nicht nur das Geld für den Führerschein, sondern wurde regelrecht verführt von Ästhetik, Sensorik und der Veränderung der Kaffeebohnen beim Rösten, von der Vielfalt der Anbauregionen und der hohen Kunst des traditionellen Rösthandwerks. Es folgten ein Bachelorstudium der Oecotrophologie und ein Masterstudium in Agrarwissenschaften. Die Studienschwerpunkte: Kaffeeanbau, -wachstum und -produktion. Schon in ihrer Bachelorarbeit lag der Fokus auf Missständen der Nachhaltigkeit in der Rohkaffeeproduktion.

Um sich wortwörtlich und mit eigenen Händen in den Kaffeeanbau zu graben, nahm Anna Lina an einem dreimonatigen Forschungsprojekt am Mount Elgon in Uganda teil. Mit Mitteln von BMZ (Bundesministerium für Zusammenarbeit) und IITA (International Institute of Tropical Agriculture) sollten anhand vergleichender Untersuchungen des Kaffeeanbaus in Uganda und der Kakaoproduktion in Ghana die Auswirkungen des Klimawandels in Bezug auf die Pflanzen, sogenannte „Pests & Diseases“, Boden, Erntemengen und Qualität eruiert werden. Im Rahmen ihrer Masterarbeit übernahm die Agrarwissenschaftlerin den Qualitätsteil der Studie im Kaffeeanbau. Ihre Ergebnisse waren breit (je nach Verschattung der Parzelle, Höhenlage, Kaffeevarietät), die offenen Fragen nach dem intensiven viertel Jahr vor Ort noch zahlreicher.

„Obwohl aus der Forschung heraus schon so viele Erkenntnisse zum Kaffeeanbau generiert wurden, sind diese für den eigentlichen Kaffeeproduzierenden nicht zugänglich“ stellte Anna Lina fest und begann die Lücke strategisch zu schließen. Mit der Gründung der MULEMBE Kaffee UG hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, ihr Spezialwissen auf die Straße zu bringen, und zwar ganz konkret auf die Pfade am Mount Elgon. Dabei ist der Firmenname sicher so manches Mal Türöffner, denn „Mulembe“ bedeutet auf der lokalen Sprache der Kaffeeproduzent:innen „Hallo, ich komme in friedlicher Absicht“ – und genau das tut das MULEMBE Team mit seinem Direkthandel auf Augenhöhe.

Die fehlende Verknüpfung von Wissensgenerierung und Wissenstransfer sowie -anwendung ist übrigens kein Uganda-Phänomen. Worin liegen die Probleme? Viele Farmer:innen sind Analphabeten und wenige sprechen Englisch, erklärt Anna Lina. Damit sind die meist in Englisch verfassten Forschungsergebnisse Bücher mit sieben Siegeln. Hinzu kommt, dass die kleinen Farmen, in ihrer Größe übrigens vergleichbar mit einem Schrebergarten, weder über einen Internetanschluss noch über eine Emailadresse verfügen. Dieser Umstand führt u.a. dazu, dass jemand aus dem MULEMBE Team physisch zu jeder einzelnen Farm fahren muss, um beispielsweise die Ergebnisse der Probennahmen zu übergeben. Und diese wiederum sind zuvor in eine lokale Sprache (im Distrikt Bulambuli wird Lugisu gesprochen) zu übersetzen. Ich betone dies hier, weil ich es als einen spannenden Aspekt der sozialen Nachhaltigkeit werte, niemanden über die Sprache auszugrenzen.

Das lokale Engagement von MULEMBE fußt auf der Tatsache, dass Anna Lina sich beim Einkauf des Rohkaffees auf nur eine Region am Mount Elgon beschränkt – im Unterschied zu anderen Importeuren, die dort kaufen, wo gerade eine reiche und gute Ernte eingefahren wurde. Mit der Konzentration auf nur ein Anbaugebiet einher gehen einerseits eine Verantwortung für die Produzent:innen und gleichzeitig ein unternehmerisches Risiko. Entsprechend hat meine Gesprächspartnerin ein großes Interesse daran, die Situation vor Ort fair und gerecht zu gestalten. „Bei all unseren Bemühungen sind wir darauf bedacht, dass die Produzent:innen nicht von uns abhängig sind und die ganze Community gleichermaßen von dem Mehrwert profitiert – deshalb kaufen wir die gleiche Menge von jeder der 44 Farmen auf und verpflichten die Produzierenden nicht dazu, uns auch im nächsten Jahr ihre Ernte zu verkaufen.“

In der Regel ist das Interesse an einer langfristigen Geschäftsbeziehung jedoch groß, denn MULEMBE zahlt nicht nur den höchsten Einkaufspreis in der Region, sondern unterstützt seine Kaffeebauern und -bäuerinnen ganzjährig durch sein lokales Team rund um Priscilla Nagudi. Seit dem Beginn der Vor-Ort-Unterstützung im Jahr 2018 konnten die Produzierenden höhere Ernteerträge und eine bessere Kaffeequalität erzielen. Selbst die Resilienz gegen Wetterextreme ist heute eine stärkere. Durch das kostenfreie Bereitstellen von benötigten Materialien, wie Trocknungstische oder dem Handpulper zum Schälen der Kaffeekirschen, haben die Erzeuger darüber hinaus geringere Produktionskosten. Um auch die Schwächsten zu integrieren, dürfen diejenigen, die alleine nicht ausreichend Kaffee ernten können, ihren Kaffee in Gruppen verkaufen – mit dem Ziel, dass auch diese Personengruppe durch die Steigerung der eigenen Produktivität zukünftig (wieder) von ihrem Kaffeeanbau leben kann.

Doch die Unterstützung geht über die reine Kaffeeproduktion hinaus. Kaffeekirschen werden nur einmal pro Jahr geerntet, Kakao dagegen mehrmals. Zudem überragt eine Kakaopflanze den Kaffeestrauch. Diesen Umstand nutzt MULEMBE und beschert dem Kaffee durch die zusätzlich in die Plantage gepflanzten Kakaobäume angenehmen Schatten und den Erzeuger:innen eine Einkommensdiversität über den Verkauf der Kakaobohnen. Außerdem wurden Bienenstöcke verteilt und Workshops zur Honigproduktion durchgeführt, um eine weitere Einkommensquelle zu generieren und die Erträge der Kaffeepflanzen durch die Bestäubung über Bienen zu verbessern. Viele kleine smarte Kaffee-Hacks, die direkt die Lebenssituation der lokalen Geschäftspartner:innen steigert und das Vertrauen stärkt.

Dieses überdurchschnittliche Engagement der Wegbegleiter:innen und Abnehmer:innen des Kaffees ist übrigens gleichzeitig aktive Forschung, denn Anna Lina untersucht in ihrer Doktorarbeit die Verbesserungspotentiale für die Einkommenssituation der Kaffeekleinbauern und -bäuerinnen am Mount Elgon.

Kaffee- und Kakaoanbau am Mount Elgon, Fotos: Anna Lina Bartl

Am anderen Ende der Lieferkette hier in Deutschland setzt sich das Engagement fort. Anna Lina und ihr Team holen jeden einzelnen Kaffeebauern, jede einzelne -bäuerin, aus der Anonymität und machen sie zu Kaffeeheld:innen. Nach dem Prinzip der Panini-Bildern von Fußballlegenden finde ich als Käufer:in auf jedem Kaffeepaket, das ich erwerbe, ein Foto des Erzeugers „meines“ Kaffees und gelange zudem über einen auf der Verpackung abgebildeten QR-Code zu einer Video- oder Audionachricht des Kaffeeproduzierenden. Das Foto und der Name des jeweiligen Erzeugers ist auf einen ablösbaren Sticker gedruckt, so dass wir Konsument:innen uns ein Team von Kaffeeproduzent:innen in einem Stickeralbum zusammenstellen und Notizen zu den jeweiligen Kaffees machen können. Zudem wird denjenigen, die im MULEMBE Café in der Harenberger Str. 3 in den Kaffeegenuss kommen, die Möglichkeit geboten, dem Produzierenden in einer Art Poesiealbum eine persönliche Nachricht zu übermitteln. Ein Gruß, eine Aussage zum Kaffeegeschmack oder einfach ein Dank für die besondere Arbeit, die der Produzierende tagtäglich leistet. Gelebte Wertschätzung – auch oder gerade als Konsument:in.

Bis zu dieser Zeile haben wir uns ausschließlich mit Kaffee aus Uganda beschäftigt. Alles gesagt ist jedoch bei weitem nicht, denn Anna Linas Engagement für die Menschen vor Ort geht über das „schwarze Gold“ hinaus.

Den ersten Nebenschauplatz möchte ich mit dem Begriff „Damenhygieneartikel“ betiteln – ein Wort, bei dem mein Sohn im Grundschulalter wahrscheinlich rote Ohren bekäme. Dabei kann genau ein solcher Artikel darüber entscheiden, ob aus einer Analphabetin eine Frau wird, die selbstbestimmt ihren Weg geht! Das MULEMBE Team hat bei seiner Arbeit am Mount Elgon bemerkt, dass die Mädchen an den Tagen ihrer Periodenblutung der Schule fernbleiben. Zu groß ist die Scham – und das Geld für hygienische Hilfsmittel nicht vorhanden. Entsprechend verantwortet eines der vielen Sozialprojekte des Unternehmens die regelmäßige Ausstattung der weiblichen Farmmitglieder mit Damenhygieneartikeln.

Zu den Vorzügen unserer „ersten Welt“ gehört der Zugang zu waschbarer und damit wiederverwendbarer, nachhaltiger und kostensparender Periodenunterwäsche. Weil aber die Häuser der Farmerfamilien weder über Strom noch fließend Wasser verfügen, könnte eine solche Wäsche aktuell nur per Hand und damit wenig hygienisch im Bottich gesäubert werden.

Hier nun schlagen wir den Bogen zur Architektur. In diesem Feld ist MULEMBE gleich mehrfach aktiv. Mit der Unterstützung des Teams wird derzeit in Buginyanya, dem Zusammenschluss mehrerer kleiner Dörfer, ein Haus offiziell zu einer Art Geburtshaus umgebaut. Inoffiziell finden die Kaffeebäuerinnen und deren Töchter hier zusätzlich Hilfe zu allen speziell weiblichen Themen, u.a. auch bei häuslicher Gewalt oder eben dem Waschen der Periodenunterwäsche mit der in Kürze einziehenden Waschmaschine.

Neben der Generierung von fairem Einkommen, der Unterstützung von Bildung und der Verbesserung der gesundheitlichen Rahmenbedingungen strahlt Anna Linas Kaffeegeschäft auch an anderer Stelle bis in die Bauwelt hinein: Das Land der Bäuerinnen und Bauern ist über viele Generationen vererbt worden. Besitzansprüche sind in der Regel nicht beurkundet. Damit die Besitzer:innen vor Landgrabbing geschützt werden, braucht es eine offizielle Registrierung des Landes. Auch bei diesen Behördengängen unterstützen die Kaffeeexpert:innen vor Ort. Aber auch wenn einem das eigenen Land oder das Zuhause nach der Registrierung nicht mehr „ohne weiteres“ von Mitmenschen geraubt werden kann, so bleiben die Hütten der Farmer:innen doch weiter dem Klima und insbesondere dessen Wandel ausgesetzt.

Hausbau am Mount Elgon, Foto: Anna Lina Bartl

Spätestens seit der Flutkatastrophe im Ahrtal wissen auch wir Deutschen um die vernichtenden Auswirkungen von Starkregenphänomenen, die in Erscheinen und Heftigkeit weltweit zunehmen. Die klassische Farmhütte und deren Bewohner:innen müssen jetzt vermehrt Erdrutsche und Schlammlawinen am Mount Elgon fürchten. Eine Veränderung, die auch Anna Lina und ihr Team alarmiert beobachten. Aber sie wären nicht MULEMBE, wenn sie nicht auch auf dieses Problem vorab reagierten: Zusammen mit der in Hamburger lebenden Architektin Lisa Heidenblut katalogisiert das Team die unterschiedlichen Bauweisen der Hütten, deren Standorte und die Witterungsbedingungen, denen die Gebäude ausgesetzt sind. Auf diese Weise können individuelle Lösungsansätze zur Ertüchtigung der unterschiedlichen Bautypen entwickelt werden, ohne dass jedes Gebäude einzeln beplant werden muss. Das einmal generierte Wissen kommt mehrfach in die Anwendung und kann beim Bau neuer Farmgebäude direkt genutzt werden – zumal die Planung ausschließlich mit Materialien und Ressourcen erfolgt, die kostengünstig, umweltverträglich und in ausreichender Menge vor Ort vorhanden sind.

Kathrin Albrecht im Stadtkind 3/23

Portrait Anna Lina Bartl, www.mulembe-kaffee.de © Luisa Höhne
Collage Kaffee- und Kakaoanbau am Mount Elgon © Anna Lina Bartl
Farmhaus im Bau © Anna Lina Bartl